Samstag, 4. Mai 2013

Besuch bei Herrn Dr. Ernst Albrecht, ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen.


Besuch bei Herrn Dr. Ernst Albrecht, ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen.

Burgdorf-Beinhorn bei Hannover am Freitag,  06.04.2013

Von Thanh Nguyen-Brem

Vorgeschichte:

Dr. Ernst Albrecht war zwischen 1976 und 1990 Ministerpräsident von Niedersachsen. Genau in dieser Amtszeit ereilte das Schicksal der „Boat People“ aus Vietnam die Medien. 

Die Menschen in den westlichen Ländern zehrten noch von dem alten Bild des „befreiten Vietnam“ und waren sprachlos und fassungslos, als die erschütternden Bilder der im Meer herumirrenden Flüchtlinge aus Vietnam in den überfüllten Schiffen „Hai Hong“, „Tung An“ und Huey Fong, mehr als 10.000 in der Zahl, überall verbreitet wurden - ausgestoßen, gejagt, vertrieben von ihren Nachbarländern. 

Niemand wollte diese ungeheuerliche Last tragen. Menschliche Schicksale wurden zu Zahlen in der Statistik degradiert.

Auch der Westen, die zivilisierten Staaten in Europa, zeigte sich zwar berührt, erschüttert, entsetzt von dieser ungeheuerlichen menschlichen Tragödie. Aber auch hier lief das alte Schema ab: man appellierte an die UNO und an die Staaten Asiens, den „Verdammten der Meere“ (frei nach Heinz Konsalik) größtmögliche Hilfe zu leisten, sprich: die Boat People in Asien ans Land gehen zu lassen und sie zu versorgen. Auf die Idee, die Flüchtlinge selbst aufzunehmen, kam niemand, niemand von den reichen Industrienationen.

Wirklich niemand? Nein. Es passierte etwas, was an „Asterix“ erinnerte: Ganz Gallien war von den Römern besetzt aber es gab ein kleines Dorf, dessen Bevölkerung aufbegehrte. Ja, das gleiche Bild wiederholte sich. Ganz Europa war in pathetischen Appellen versunken. Aber es gab einen Mann, der gegen die Tatenlosigkeit aufbegehrte: Dr. Ernst Albrecht erklärte, zunächst eintausend (1000) Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Für die damaligen Verhältnisse war diese Entscheidung ungewöhnlich mutig. Die Meldung explodierte förmlich in den Medien, die bis dahin oft nur ellenlange aber unsägliche Beiträge über die „Sieger der Revolution“ (sprich: die kommunistischen Nordvietnamesen) und „böse Amerikaner bzw. Südvietnamesen“ anzubieten hatten. Die gewaltige Explosion der mutigen Entscheidung Albrechts überhörte die „nicht mediengeschädigte“ Bevölkerung nicht. 

Fortan lief eine nie dagewesene Hilfswelle an und überschwemmte mit hohen Wogen das Land. Heute hätte man den Begriff „Tsunami“ verwendet. 
Die schmerzgeplagten Gesichter der ankommenden Flüchtlinge lassen selbst hartgesottene Helfer des DRK erschaudern. „Gibt es denn so was?“ war die häufigste gestellte Frage.

Albrecht handelte nach seiner Lebensweisheit

"Entweder schreibst du selbst Geschichte oder die Geschichte überrollt dich, wenn du zögerst.“

Befreiung von der Befreiung, Befreiung paradox? Ja, wenn die Befreiten (die Südvietnamesen) vor den Befreiern (den Nordvietnamesen) flohen. Diese Tragödie entlarvte die Verlogenheit der (linken, selbstherrlichen) Medien. Diese Journalisten mögen intellektuell gewesen sein. Die Situation konnten sie keinesfalls erfassen. Sie überforderte ihre Vorstellung.

Mit dieser Tat setzte Dr. Albrecht nicht nur eine große Hilfswelle frei sondern gleichzeitig die restlichen Bundesländer und das westliche Ausland unter „humanitären“ Druck. Der Stein rollte. NRW und Baden-Württemberg folgten in unmittelbarer Zeitfolge dann die Niederlande, Norwegen und Dänemark.

Im Frühjahr 1979 gab es kein Halten mehr. Es gehörte plötzlich zum guten Ton der Politik, „Boat People“ aufzunehmen, ausgenommen Schweden, dessen liberale Regierung von Ola Ullsten weigerte sich hartnäckig Flüchtlinge aufzunehmen und suchte das Heil in faulen Ausreden (die Vietnamesen würden in Schweden nur erfrieren. Die Bevölkerung hätte keine Sympathie für Südvietnamesen …). Ullsten übernahm die Sprachregelung von Olof Palme, bis die UNO am 20. und 21.07.1979 eine Flüchtlingskonferenz in Genf einberief, um Hilfsmaßnahmen zu koordinieren. Erst sein Nachfolger Thorbjörn Fälldin beugte sich dem moralischen Druck des UNHCR (UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge) und nahm Anfang 1980 die ersten Flüchtlinge auf, als letztes Land der „zivilisierten Welt“.

Bereits im Frühjahr 1979 formierten sich in Frankreich und in Deutschland private Initiativen zur Rettung von „Boat People“. In Frankreich entstand die Hilfsorganisation „un bateau pour Vietnam“, initiiert von Jean-Paul Sartre und Raymond Aron, den streitbaren Kämpfern der Resistance (der Widerstandbewegung gegen die deutsche Besatzung Frankreichs) und erbitterten politischen Gegnern in der Nachkriegszeit. Nach 34 Jahren der Wortlosigkeit entschieden sie sich gemeinsam für die Hilfe. Die Organisation „un bateau pour Vietnam“ schickte das Hilfsschiff „Île de lumière“ (Insel des Lichtes) ins Südchinesische Meer (Ostmeer), um „Boat People“ zu retten.

Zur gleichen Zeit initiierte der Journalist Dr. Rupert Neudeck eine Aktion in Deutschland, unterstützt von ansonsten politisch so gegensätzlichen Personen wie dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll, einem der heftigsten Gegner der USA in Vietnam und dem Publizisten Matthias Walden, dem politischen Gegner von Heinrich Böll u.a.m. Ein Schiff sollte unter dem Namen „Port de la lumière“ (Hafen des Lichtes) auslaufen. Wegen der zusätzlichen Kosten für die Umbenennung lief es dann unter dem alten Namen „Cap Anamur“ aus.

Zwischen den von den Poat People so benannten „größten Vietnamesen in Deutschland, Ernst Albrecht und Rupert Neudeck, besteht eine enge Freundschaft. Dr. Neudeck gab den in Deutschland lebenden Vietnamesen eine „Hausaufgabe“, „den größten Vietnamesen in Deutschland“ zu besuchen.    

Der Besuch:

Da Herr Dr. Ernst Albrecht an Alzheimer erkrankt ist, muss die Besuchergruppe auf vier Personen begrenzt werden. Dank des engagierten Managements von Carolin und Christine Le Trung aus Kornwestheim konnte ein Termin am Fr. 06.04.2013 um 15 Uhr vereinbart werden. Zu der Gruppe gehörte neben mir (dem Autor) als „Wasserträger“ Herr Lam Dang Chau als Lokalmatador.

Während Carolin und Christine zu der Generation der „vietnamesischen Schwaben bzw. Deutschen“ gehören, denn sie sind in Deutschland geboren, zählen wir, Chau  und ich zu der „älteren Generation“. Wir sind in Vietnam geboren, kamen als Studenten Anfang der 70er Jahre nach Deutschland und haben Deutschland als die neue Heimat angenommen. Als Verfechter von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten wären wir in Vietnam unerwünscht und vielleicht sogar schon in Haft.

Wir kommen in Burgdorf-Beinhorn um 14:50 Uhr an und warten auf die Haushälterin von Dr. Albrecht, Frau Lehmberg, die uns abholen will, denn wir sollen nicht läuten. Die Zeit vergeht und es passiert nichts. Das Haus mit der Nummer 2B finden wir nicht. Die Häuser tragen die Nummern 2, 2A, 2C und 2D. Ein Haus hat keine Hausnummer und wir vermuten, dies muss die Nummer 2B sein. Nichts der gleichen. Um 15:15 Uhr beschließt Chau, bei Haus Nr. 2 A zu läuten, denn das ist das einzige Haus, in dem die Lichter brennen. Ein junger Mann im T-Shirt mit dem Aufdruck von Werder Bremen erklärt uns, dass das Haus der Albrechts an der anderen Seite des Grundstücks liegt, wir sollen um das Grundstück weiträumig herum gehen.

Schließlich erreichen wir nach ca. fünf Minuten Fußmarsch das Wohnhaus von Dr. Albrecht und seiner Tochter, Frau Dr. Ursula von der Leyen, der Bundesarbeitsministerin, und anderer Familienmitglieder. Wir läuten und es passiert zunächst nichts. Niemand von uns hat die Telefonnummer von Albrecht bei sich. Was tun? Noch während unserer Versuche, zu Hause anzurufen und die Nummer suchen zu lassen, kommt uns Frau Lehmberg aus dem Haus entgegen und geleitet uns ins Haus.

Herr Dr. Albrecht empfängt uns im Anzug und Krawatte und heisst uns herzlich willkommen. Wir werden zu Tisch begleitet, der liebevoll mit Dekos, Kuchen und Keksen gedeckt ist. Frau Lehmberg hat für uns extra gebacken.

Die gemütliche Runde mit Kaffee und Kuchen beginnt fröhlich. Ich amüsiere mich köstlich über seine an mich gestellte Frage: „Gehören dir die beiden Mädchen (Carolin und Christine) ?“ Wir erklären ihm (und Frau Lehmberg), wo wir herkommen, aus Stuttgart, aus Ingolstadt und natürlich aus Hannover und dass ich nicht der Vater von Carolin und Christine bin.  

Herr Albrecht versteht offenbar die vietnamesische Sitte, „Kinder“ mit Geld zu beschenken, damit sie Glück haben! Er holt 5€-Scheine und übergibt uns dies mit herzlichen Grüßen.

Als (einziges) politisches Statement betont er stolz die historische Bedeutung der Einigung Europas (ohne zu erwähnen, dass er einer der Architekten Europas ist). Der Kontinent der vielen blutigen Kriege ist zu einem Kontinent des Friedens geworden und ist heute so stark, dass niemand sich mehr trauen würde, ihn anzugreifen.

Er hört gerne Musik und fragt uns höflich, ob er eine CD starten dürfe. Sein Bruder Georg ist Intendant in Weimar und dirigierte das Konzert, das er uns auf der CD vorführt. Danach möchte er wissen, ob jemand von uns Klavier spielen kann. Carolin führt ihre Musik vor, was uns, einschließlich Dr. Albrecht, sehr gut gefällt.

Danach lädt er uns ein, seine Tiere im Garten zu füttern, die drei Hühner im Stall, die Ziegen auf der großen Wiese. Wir sehen auch zwei Pferde in der Weite und können seinen selbstangelegten Teich bewundern. Ein Mensch in der Natur, die er liebt.

Um ca. 17:30 Uhr kommt Herr Lehmberg, der Mann von Frau Lehmberg, der mit ihr und seiner Schwägerin den Haushalt verwaltet. Herr Lehmberg erzählt stolz, dass er mehr als 30 Jahre Ermittler des Landeskriminalamtes war. Als pensionierter Beamter hilft er gerne im Haushalt Albrechts mit.

Kurz danach trifft Herr George Alexander Albrecht ein. Der Bruder von Ernst Albrecht ist Intendant in Weimar. Als ich den Namen eines Bekannten erwähne, der Intendant in Bremen ist, zeigt Georg Albrecht mit seinem Mittelfinger auf dessen Brust und sagt: „Dann schreiben Sie ihm einen Brief und grüßen Sie ihn von mir! Wir haben schon in Berlin zusammen dirigiert.“ Na ja, er ist Intendant und die Welt ist doch klein denn Herr Georg Albrecht wurde in Bremen geboren!

Zum Abschied signiert er uns allen Vier sein Buch „Erinnerungen, Erkenntnisse, Entscheidungen“, in dem er u. a. die Einigung der EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Vorläuferin der EU) beschreibt.

Wir werden  danach herzlich verabschiedet und fahren mit dem guten Gefühl nach Haus, einen großartigen Menschen besucht zu haben. Von seiner Krankheit (Alzheimer) ist keine Spur zu sehen. Herr Dr. Neudeck hatte uns schon gesagt, dass „Albrecht aufblühe, wenn er nur Vietnamesen zu Besuch höre“, was wahrlich zutrifft. Herr Albrecht, hat uns sogar angeboten, bei ihm zu übernachten, um Hotelkosten zu sparen, was wir als sehr rührend empfanden. In seinem Haus hatten schon andere Vietnamesen übernachtet.

Dr. Albrecht (Jahrgang 1930), der größte Vietnamese in Deutschland. Wir wünschen ihm von Herzen, Gott möge ihm die Gesundheit und die Güte lange erhalten.

Wer weiß, was aus den im Meer herumirrenden Vietnamesen geworden wäre, ohne den Mut und die Taten von Dr. Ernst Albrecht und Dr. Rupert Neudeck.

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